Joseph Haydn
(1732 – 1809)
Missa in Tempore Belli C-Dur Hob. XXII:9 „Paukenmesse”
Als man Joseph Haydn (geb. am 31. März 1732
in Rohrau/Leitha, gest. am 31. Mai 1809 in Wien) einmal den Vorwurf
machte, seine Messen seien zu lustig, meinte er gelassen: „Wenn
ich an Gott denke, ist mein Herz so voll Freude, dass mir die
Noten wie von der Spule laufen. Und da mir Gott ein fröhliches
Herz gegeben hat, so wird er mir’s schon verzeihen, wenn
ich ihm auch fröhlich diene.“
Zu dem berechtigten Bild des tief religiösen, ja frommen
Komponisten, der knieend sein Tagwerk begann und beschloss, gesellten
sich schon bald platte, der Einschätzung und Rezeption Haydns
wenig förderliche Klischees: die Vorstellungen vom biederen,
zopfig-philiströsen, kompositorisch im Grunde unergiebigen „Papa“-Klischees,
die durch das ganze 19. Jahrhundert mitgeschleppt wurden (Schumann
etwa konnte Haydn nichts abgewinnen, Berlioz hasste ihn!) und
die noch einen Max Reger zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Begutachtung
einer Haydnschen Sinfonie geringschätzig ausrufen ließen: „Dem
Luder fällt doch noch was ein!“ – Klischees,
die am Kern des Haydnschen Wesens vorbeizielen, die nur sehr
am Rande Liegendes streifen, weil sie von vor späteren Zeithintergründen
aufgebauten Sichtweisen genährt wurden und somit ästhetische
Positionen beziehen, die auf das Kunstdenken der Haydn-Zeit nicht
anwendbar sind.
Kenner schätzen Haydn seit Generationen als einen der frischesten,
experimentierfreudigsten, witzigsten, einfallsreichsten und in
allen Bereichen der Tonkunst gleichermaßen genialen Komponisten,
der das Antlitz der Musik des 18. Jahrhunderts wie nur wenige
vor und nach ihm verändert und auf neue Grundlagen gestellt
hat.
Bemühen wir einmal mehr einen im Grunde müßigen
Vergleich – den mit Mozart: Was der Jüngere seinem
fraglos bedeutendsten Konkurrenten voraus hat, ist wohl zuvorderst
der noch ausgeprägtere Sinn für Dramatik (im Personenzeichnerisch-Opernbezogenen
wie rein Tonsprachlich-Dialektischen) und – hinsichtlich
des Ausbildungswerdegangs – die reiche Italien-Erfahrung.
Demgegenüber haben die Werke des Älteren, worauf Alfred
Schnerich in seinem Haydn-Buch von 1926 pointiert verweist, einen
unverwechselbaren, herkunftsbedingten „Erdgeruch“ – „Haydn
hat immer Bauernstrümpfe an.“ (S.17.) Das ist sehr
weise beobachtet und hat, wie wir meinen, etwas durchaus Schönes
und Positives: Was ihm, dem Niederösterreicher, dem Landmenschen
und „Selfmademan“ (Schnerich) an Grandezza, an schwelgerischer
Italianità fehlt, ersetzt er reichlich durch eine liebenswürdig-charmante,
kernige Geradlinigkeit bodenständig verwurzelten Empfindens.
Dies macht seine Musik ganz unverkennbar österreichisch.
(Schubert und Bruckner, Wolf und Schmidt sind es, die ihm hierin
folgen.)
Und vor allem: Sein volkstümlich-österreichisches,
mehr demokratisches als aristokratisches Empfinden hindert Haydn
nicht daran, ja, begünstigt ihn vielleicht darin, kühn
zu sein, kühner als alle Zeitgenossen um ihn. Seine musikalischen
Konzeptionen sind hinsichtlich der Klangfarbenregie, der Harmonik,
vor allem aber der formalen Erfindung oft weit überraschender
und unorthodoxer, als es das gängige Biederkeits-Klischee
wahrhaben will. Unter den Wiener Klassikern war er der einzige
im echten Wortsinn experimentelle Geist. Haydns Unkonventionalität
entsprang nicht wie etwa die Beethovens einem eruptiven Ausdruckswillen,
als dessen Gestalt gewordener Reflex sie zu gelten hätte,
sondern sie ist die Verwirklichung eines Denkens, das sich – mit
Adorno zu sprechen – in bestimmter Negation zum Bestehenden
verhält: Haydns Experimente sind stets Gegenentwürfe
zum Regelkanon der Zeit. Angesprochen auf seine Abgeschiedenheit
auf Schloss Esterházy, hob Haydn als Positivum entschieden
seine dortigen Möglichkeiten hervor, „Versuche zu
machen“: „Ich konnte als Chef eines Orchesters Versuche
machen, beobachten, was den Eindruck hervorbringt und was ihn
schwächt, also verbessern, zusetzen, wegschneiden, wagen;
ich war von der Welt abgesondert. Niemand in meiner Nähe
konnte mich an mir selbst irre machen und quälen, und so
mußte ich original werden.“ Dieses Original-Werden
bezieht sich auch und gerade auf seine Messenkompositionen, die
Haydn von frühester Jugend an (die gern aufgeführte
Jugendmesse in F mit zwei Solosopranen entstand 1749 – noch
zu Lebzeiten Bachs!) bis ins hohe Alter (Harmoniemesse von 1802!)
beschäftigt haben und die für die Gesamtbeurteilung
der stilistischen Entwicklung des Meisters von nicht geringerem
Interesse sind als die Symphonien und Streichquartette. Und gemäß seines
starken Glaubensbezugs war die Vertonung des Messtextes Haydn
nicht nur künstlerisches, sondern auch zutiefst menschliches
Anliegen.
Das Messenœuvre Joseph Haydns – 14 Vertonungen des
Ordinarium Missae sind uns überliefert – ist in zwei
deutlich abgrenzbare Schaffensperioden zu gliedern: Die 1782
geschriebene Mariazellermesse in C, welche die tonsprachlichen
Errungenschaften seiner ersten Schaffensjahrzehnte in beeindruckender
Weise zusammenfasst, markiert das Ende des ersten Zeitabschnitts
der kompositorischen Auseinandersetzung Haydns mit dem Messtext.
(In den sechziger Jahren entsteht u.a. die Große Orgelmesse
in Es, in den siebziger Jahren die Nicolaimesse in G und die
Kleine Orgelmesse in B.) Die ab 1783 erlassenen restriktiven
Verordnungen Kaiser Josephs II., Gottesdienstgestaltung und Kirchenmusik
betreffend (Einschränkung der feierlichen Gottesdienste,
Einschränkung des Instrumentariums), ließen es geboten
erscheinen, von kirchenmusikalischen Arbeiten vorerst Abstand
zu nehmen. „Wie mit so manchen seiner Verordnungen hat
der aufklärungsdurchdrungene Monarch auch dadurch die Kunst
in Österreich nicht gefördert, sondern gehemmt. Der
gleiche rationalistische Geist, der im selben Jahr das Allgemeine
Krankenhaus in Wien, eine für damalige Begriffe moderne
Einrichtung, erstehen ließ, erwies sich auf anderen Gebieten
menschlichen Geistes als vollkommen negativ.“ (Leopold
Nowak, Joseph Haydn – Leben, Bedeutung und Werk, 31959,
S.273.)
Die achtziger Jahre gaben Haydn somit ausreichend Gelegenheit,
sich der Instrumentalmusik zuzuwenden, und die Gattungen des
Streichquartetts bzw. der Sinfonie erfuhren denn auch in dieser
Zeit unter seinen Händen ihre höchste Verfeinerung
und Abklärung (Vgl. etwa die sechs Pariser Sinfonien Nr.
82-87 oder die Oxford-Sinfonie in G Nr. 92, die „Russischen
Quartette“ op. 33, ferner die Quartettsammlungen op. 42,
50, 54 und 55 bzw. die als op. 51 erschienenen Sieben letzten
Worte.)
Die eigentliche Anregung zur Wiederaufnahme von Messkompositionen
ging in den späteren neunziger Jahren von Haydns langjährigen
Brotgebern, der Familie Esterházy, aus. Vorerst zog noch
eine musikalische Flaute ins fürstliche Schloss: Paul Anton
Esterházy (1738 – 1794), der seinem 1790 verstorbenen
Vater Nikolaus Joseph, „dem Prachtliebenden“, (geb.
1714, Haydns jahrzehntelangem Dienstherrn) nachfolgte, hatte
keinerlei Interesse an der Tonkunst und gab aus Gründen
der Sparsamkeit seinen Musikern kurzerhand den Laufpass. In diese
Zeitspanne aufgekündigten Dienstes (1791 – 94) fallen
Haydns ausgedehnte England-Reisen, die endgültig seinen
internationalen Ruhm als führender Komponist Europas begründeten.
Erst Paul Antons Sohn, dem ab 1794 regierenden Fürsten Nikolaus
II. (1765 – 1833), war wieder an einer musisch ausgerichteten
Hofhaltung gelegen, und in dem Bemühen, das Hoforchester
einigermaßen zu reorganisieren, ließ er von Rom aus,
wo er sich gerade aufhielt, den in England weilenden Haydn bitten,
nach Wien zurück zu kehren. Ein wichtiges Anliegen in diesem
Zusammenhang war ihm die festliche Begehung des Namenstages seiner
Gattin Maria Josepha Hermenegild (1768 – 1845, geb. Prinzessin
Liechtenstein), die in zeitlicher Nähe des (auf den 12.
September fallenden) Festes Mariae Namen (das Papst Innozenz
XI. 1683 zum Dank für glücklich abgewehrte türkische
Bedrohung Mitteleuropas eingeführt hatte) erfolgte. Für
das feierliche Hochamt in der Bergkirche zu Eisenstadt oblag
es Joseph Haydn, alljährlich eine neue Messe zu komponieren,
und er hat sich dieses ehrenvollen Auftrags in schöner Regelmäßigkeit
angenommen: 1796 entstehen die Heilig- und Paukenmesse, 1798
entsteht die Nelsonmesse, 1799 die Theresienmesse, 1801 die Schöpfungsmesse
und 1802 die Harmoniemesse als letztes großes Werk des
Meisters. (Nicht zu vergessen ist darüber hinaus, dass 1797/98
die Schöpfung, 1799 – 1801 die Jahreszeiten heranreifen!)
Die Paukenmesse ist – neueren Forschungen zufolge – nach
der Heiligmesse die zweite der sechs späten Messen. Das
Autograph ist mit „Eisenstadt 1796“ (leider ohne
Tages- und Monatsangabe) datiert. Die eigentliche Uraufführung
(man könnte auch sagen: Voraufführung) des Werkes erfolgte
am zweiten Weihnachtsfeiertag 1796 in der Wiener Piaristenkirche
Maria Treu, erst am 29. September 1797 kam die Messe in der Eisenstädter
Bergkirche anlässlich der fürstlichen Namenstagsfeierlichkeiten
zu Gehör. Der Komponist nennt sein Werk „Missa in
tempore belli“ – „Messe zur Kriegszeit“:
Damals zog Napoleon, von Italien kommend, gegen Österreich.
Seit 1792 wütete dieser Erste Koalitionskrieg gegen Frankreich,
der im Frieden zu Campo Formio vom Oktober 1797 [in dem Österreich
die Lombardei und die Niederlande (=Belgien und Luxemburg) abzutreten
hatte und als Entschädigung Venedig und dessen Gebiete erhielt]
ein nur vorläufiges Ende fand – bereits Ende 1798
wurde der Zweite Koalitionskrieg entfacht.
Haydn wählt als Grundtonart das strahlende C-Dur (In vier
weiteren der sechs späten Messen bevorzugt er hingegen das
etwas lichtgedämpfte B-Dur als Grundtonart!) und besetzt
das Werk mit 2 Oboen, 2 Fagotten, 2 Trompeten und Pauken nebst
Streichern und der Orgel. Eine spätere Fassung sieht zusätzlich
2 Klarinetten, 2 Hörner und eine Flöte vor.
In vokaler Hinsicht fällt an der Paukenmesse (gegenüber
den Hochämtern der vor-josephinischen Periode) die starke
Einbeziehung des geschlossenen Soloquartetts auf, wohingegen
bis in die achtziger Jahre bevorzugt Einzelsoli geführt
wurden. Dieses charakteristische Strukturmerkmal der Hervorhebung
des vierstimmig-solistischen Klangverbandes erfährt in der
Heiligmesse und einigen der späteren Folgewerke sogar noch
eine gewisse Ausweitung und Vertiefung. Dass das Quartett sogar
in einer Schlussfuge dem Chor gegenübergestellt wird (Credo:
Et vitam venturi, T 230ff. bzw. 286ff.), bezeichnet Alfred Schnerich
als „höchst bedeutende Neuerung“, die „so
recht Haydns ureigene Erfindung“ darstellt (A. Schnerich,
Messe und Requiem seit Haydn und Mozart, 1909, S.34).
Wie in das gesamte Halbdutzend der nach-josephinischen Hochämter
fließen auch in die Instrumentation der Paukenmesse deutlich
die Erfahrungen und Errungenschaften der verfeinerten Kunst der
späten Sinfonik ein. Die sinfonische Durchdringung ist ein
wesentliches Merkmal der kompositorischen Faktur dieser Messe.
Auf die individuelle Verwendung einzelner Instrumente, namentlich
der Holzbläser, legt Haydn besonderes Augenmerk: Im Kernstück
des Credo, dem Incarnatus, sind zwei Klarinetten als charakteristische
Farbergänzung gefordert, im Qui tollis des Gloria wird der
Bläsersatz um eine Flöte und ein zusätzliches
Hörnerpaar (in A alto) bereichert, aus dem Streicherkörper
tritt ein Violoncello solistisch heraus. All dies dient fraglos
einer vertiefenden Ausdeutung des Textes. Leopold Nowak, der
die Paukenmesse der Mariazellermesse von 1782 gegenüberstellt,
konstatiert vergleichend: „Aber welcher Unterschied […]!
Aus der nur musikalisch-künstlerischen Beherrschung ist
nunmehr eine auch innerliche geworden. Der Mensch Haydn, zur
Spitze seiner Kunst emporgestiegen in den Londoner Symphonien,
fügte dem menschlichen Fühlen seine Frömmigkeit
hinzu, der irdischen Freude den Glauben an eine metaphysische
Gewißheit, an Gott.“ (L. Nowak, J. Haydn, S. 396.)
Grandios präsentiert sich bereits die 10taktige Largo-Einleitung
zum Kyrie: Über grundierenden Streicherachteln
erheben sich, zunächst unisono, dann in immer spannungsgeladener
Harmonik, die ersten innigen Erbarmungsrufe des Chores, von den
Holzbläsern unterstützt und um charakteristische Doppelschlag-Motive
bereichert, die im Verlauf des Werkes noch mehrfach wiederkehren.
Das nachfolgende, beseligend-fröhliche (aber nicht lustige!)
Allegro moderato vereinigt Strukturelemente der Konzert- bzw.
Sonatenhauptsatzform und stellt in wirkungsvoll responsorischer
Anlage vorwiegend die Sopran- bzw. Altsolistin dem Chor gegenüber.
Das dreiteilig angelegte Gloria bringt zu Beginn
die klar gegliederten Gottesanrufungen bis Filius Patris durch
den Chor – die Haltung ist ernst, dabei nicht ohne zündende
Marcati und rhythmische Finessen; die Textzeilen werden in bevorzugt
taktverschobener Deklamation vorgetragen.
Der Schlussteil nimmt den Gestus des Anfangs auf und stellt im
abschließenden Amen frei kontrapunktierende Linien wirkungsvoll
gegen homophone Kadenzierungen. Auch der Solosopran meldet sich
am Ende noch einmal überraschend zu Wort. Dazwischen steht
ein langsames A-Dur-Allabreve (A-Dur = mediantischer Gegenpol
zur Grundtonart C-Dur!): Dieses berückende Zwiegespräch
zwischen Bass- und Cello-Solo, dem sich der Chor bald eigenständig,
bald nachbetend hinzugesellt, ist in melodischer und harmonischer
Hinsicht (Changieren zwischen Dur und Moll!) vielleicht der inspirierteste
Teil des Werkes.
Der elegant kontrapunktisch geführte erste Teil des Credo hält
die strenge Chorkunst der Vorväter in Ehren. Das folgende
60taktige c-moll-Adagio ist gleichsam das Herzstück der
Messe und berichtet in höchster musikalischer Konzentration
und Eindringlichkeit von Fleischwerdung, Kreuzigung und Tod Jesu – die
ausgesucht schönen Harmoniefolgen, die effektvollen Fermaten
auf „et“, der so behutsam vorbereitete weihnachtliche
Es-Dur-Krippenglanz (T62 – 65), das Wiederauftauchen der
Doppelschlagmotivik im Crucifixus, die hämmernden Achtelrepetitionen
der Streicher, die beiden klangaussparenden Klagesexten der Frauensoli
(„passus“), das unmittelbar darauf einfallende, neapolitanische
Des-Dur des Chores, der ersterbende Orgelpunkt zur Grablegung:
All dies sind Momente höchster musikalischer Klassizität,
die in dieser klaren Schlichtheit und schlichten Klarheit nicht
mehr überbietbar waren.
Die weitere, in satte orchestrale Feierlichkeit gekleideten Glaubenssätze
deklamiert Haydn wieder bevorzugt taktverschoben, ein gehauchtes „mortuorum“ leitet über
zur Schlussfuge „Et vitam“, fraglos einer der schönsten
Chorfugen Haydns, die, wie erwähnt, das Soloquartett klangauflockernd
miteinbezieht.
Das Sanctus, ein durch den Soloalt eröffneter,
erhebender Feiergesang, mündet in ein vom Solotenor vorgetragenes,
chorisch aufgenommenes Osanna, das sich ganz volksnah gibt: Alpenländische
Dreiklangsmelodik erscheint hier kunstmusikalisch überhöht – ein
besonderes Signum der reifen Wiener Klassik.
Das fast zur Gänze dem Soloquartett vorbehaltene, gemessen
schreitende Benedictus (c-moll, 6/8-Takt) zeigt
ungewöhnlich ernste Physiognomie: Die durch das drohende
Unheil gebrochenen Freudenstrahlen des Palmsonntagsjubels korrespondieren
hier wohl mit der von Süden nach Österreich einfallenden
Kriegsfurie. Erst die Wendung nach C-Dur (T 75) verheißt
den letztendlichen Sieg des Guten. Im Osanna bleibt Haydn der
Dreiklangsmotivik treu, nur kehrt sich die Linie diesmal abwärts.
Der Chor beschließt diesen Benedictus-Gesang als geistliches
Volkslied, wie es edler nicht erdacht sein könnte.
Liedhaft, wie ein Gemeindegesang, beginnt auch das Agnus
Dei, in das schon bald jener schauererregende Paukenrhythmus
einfällt, der dem Werk den Namen gab: Zum innigen Choralton
des Chores gesellt sich dumpf grundierendes Kriegsgetrommel,
dessen letztes Donnergrollen in glanzvolle Bläserfanfaren
mündet, die nicht den Sieg des Feindes künden, vielmehr
den Sieg der Eintracht, auf den alle Menschen guten Willens hoffen.
So wird Haydn mit seinem jubelnden Dona nobis, in dem Soli, Chor
und Orchester zu glanzvollem Schlusspreis zusammenfinden, zum
Sänger aller Zuversichtlichen und formt ein Bekenntnis und
den zeitlosen Ausdruck unser aller tiefen Sehnsucht nach Frieden,
die nicht nur zu wehklagen braucht, die sich auch in himmlischer
Fröhlichkeit ergehen darf: Servite Domino cum laetitia – Dient
dem Herrn mit Freude!
Lässt man die Paukenmesse als klingendes Kunstwerk auf sich
wirken, so wird man in ihr nicht nur eines Zeugnisses unerschütterlichen
Glaubens an die Größe und Herrlichkeit Gottes gewahr,
man erkennt an der souveränen Handhabung der formal-technischen
Mittel auch die gestalterische Potenz, der es um weit mehr zu
tun ist als um unbekümmertes „Spulenlaufen“ von
Noten.
Wenn Goethe in Haydns Werken „die ideale Sprache der Wahrheit“ entfaltet
sieht, so trifft er genau die Idee dieser Musik, es ist die der
Aufklärung. Die Tonkunst des großen Niederösterreichers – ähnlich
der Dichtung Wielands immer noch einigermaßen verkannt – ist
getragen vom Vertrauen auf die Macht des Geistes, der in immer
neuen „Versuchen“ sich zu bewähren hat: Kunst
als Manifestation und Symbol einer ordnenden Kraft, die Materie
nach den Vorstellungen der Vernunft zu formen. Dass sich angesichts
Haydns unversieglicher Experimentierfreude, seiner auf Schritt
und Tritt begegnenden Ausbrüche aus starren Formschablonen,
seiner schelmisch-augenzwinkernd präsentierten „Gegenentwürfe
zum Regelkanon“ (s.o.), seiner (wie Guido Adler es anlässlich
der Haydn-Zentenarfeier 1909 in Wien formulierte) auf höchster
Stufe der Kunstbeherrschung erreichten „Freiheit in der
Gebundenheit und Gebundenheit in der Freiheit“ das bis
heute unüberwundene Klischee vom zopfigen „Papa Haydn“ bilden
konnte, beruht auf einem schwerwiegenden Missverständnis,
das an eine ästhetische Position geknüpft ist, die
ihr Werturteil in erster Linie am Gefühlsausdruck festmacht
und das Revolutionäre nur dort sieht, wo es sich mit Gewalt
oder Pathos Bahn bricht. (Beethovens C-Dur-Messe von 1807, die
am 15. August 2003 in der Stiftskirche Altenburg zu hören
war, ist bereits deutlich dieser neuen, romantisch-subjektiven
Gefühlsästhetik verpflichtet!) Haydns Originalität
hat mit all dem nichts gemein; sie ist einzig gespeist aus dem
Glauben an Gott und – in künstlerischer Hinsicht – aus
dem Glauben an die Kraft des Rationalen. Darin liegt ihre Stärke,
ihre Naivität im besten Sinne – und ihre Klassizität!
Friedrich Blume (1893 – 1975), Herausgeber der großen
Enzyklopädie „Musik in Geschichte und Gegenwart“,
geht noch einen Schritt weiter, wenn er am Ende seines grundlegenden
Epochenartikels „Klassik“ in der Künstlerpersönlichkeit
Joseph Haydns die entscheidenden Wesensanteile musikalischer
Klassik in einmaliger Weise kulminiert sieht: „In keiner
anderen Musikerpersönlichkeit hat sich die ursprüngliche
Einheit von schöpferischer Leistung, klassischer Kunstgesinnung
und gesellschaftlicher Lebensform mit so vollendeter Klarheit
manifestiert wie in Haydn. Er hat die Technik der Komposition
zur letzten Reife des Klassischen entwickelt, die überzeugendsten
Beispiele für den Einklang von höchster Kunst und höchster
Volkstümlichkeit gegeben, und er hat in seiner schlichten
Person die weltumspannende Menschlichkeit der Musik auf das reinste
verkörpert. […] Mozarts Klassizität ist in seinen
reifsten Werken schon von den Schatten der Romantik umdüstert.
Beethoven umgreift nach Werk und Persönlichkeit den klassischen
wie den romantischen Bereich. Wenn es eine reine `Klassik´ der
Musik gibt, so ist es Joseph Haydn, in dessen geschichtlicher
Erscheinung sie vollkommene Wirklichkeit geworden ist.“ |