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Werkbesprechungen

 

MESSA DA REQUIEM
Giuseppe Verdi (1813-1901)
Schließlich ist im Leben doch alles Tod?“
Giuseppe Verdis realistische Messa da Requiem

Die beiden Persönlichkeiten Gioacchino Rossini und der Schriftsteller Alessandro Manzoni stehen hinter der verwickelten Entstehungsgeschichte seines Requiems. Die angesehensten italienischen Komponisten sollten gemeinsam eine Totenmesse schreiben, die dann am ersten Jahrestag von Rossinis Tod in Bologna aufzuführen wäre“ (Uwe Schweikert). Das von dreizehn Komponisten (inklusive Verdis Libera me) verfertigte „Pasticcio“ kam rechtzeitig zustande; die Aufführung scheiterte indes an Eitel- und Feindseligkeiten lokaler Kleingeister oder an der egoistischen Gleichgültigkeit.
Der Beitrag Verdis sollte der Gattung die in mancher Hinsicht bis heute unangefochtene Krone aufsetzen!
Zum endgültigen Anstoß für diese von ihm allein verantwortete Messa da Requiem
wurde am 22. Mai 1873 der Tod des von Verdi tief verehrten italienischen Nationaldichters Alessandro Manzoni, also ein musikalisches Memorial!
Sie wurde mit größtem Erfolg unter seiner Leitung am 22. Mai 1874 im Mailänder Dom uraufgeführt.

Eine kleine Anekdote:
Da die Uraufführung in einer Kirche stattfand, gab es noch ein Problem zu lösen: Weil es im damaligen Italien, horribile dictu, Frauen immer noch verboten war, in einer Kirche den Mund aufzutun, Verdi aber Knabenstimmen ablehnte, mussten die Damen des großen gemischten Chores auf erzbischöfliche Anordnung hin schwarzgewandet und verschleiert hinter einem Chorgitter plaziert werden, so dass ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht auf Anhieb erkennbar war...

Ferdinand Hiller fasste die musikalische Bedeutung von Verdis Requiem 1875 treffend zusammen: „Es ist wohl das erste Mal, dass in einer Composition auf geistliche Worte die guten Errungenschaften der Neuzeit so voll und glänzend benutzt worden, als es hier der Fall. Völlige Freiheit im Aufbau, ohne dass die architektonischen Linien je verschwänden; Benutzung moderner Technik, ohne Missbrauch derselben; charakteristische Declamation ohne ängstlich pedantische Gebundenheit an jede Silbe, dramatischer Ausdruck, jedoch nicht  theatralisch.
Viele Gesänge sind von großer Innerlichkeit und ausdrucksvoll.
Der Meister zeigt sich in den vielfachen Verschlingungen seines Chores mit den Solostimmen in gänzlich freien, zum Theil sehr originellen vokalen Combinationen, aber auch bei den strengen polyphonen Formen weiß er sich mit einer Gewandtheit zu bewegen. Die Sanctus -Fuge für Doppelchor und das vierstimmige Fugato im Libera me können manchem Contrepunktisten ex professo zu denken geben.“
Die Vielfalt reicht vom Flüstern des Chores über „gregorianisches“ Psalmodieren und Singen bis zur achtstimmigen Fuge, von solistischen Ariosi über Ensemblesätze bis zu vielgestaltigen Chören, von archaisierender Pentatonik und Modalität über musikalisierte Seufzer aller Art bis zu verdischen Melodien und komplexer Chromatik, von unbegleiteter Einstimmigkeit über archaisierende Heterophonie bis zu größtem harmonischem Reichtum und weit gespannten Modulationen.
Die vier Solisten sind erstmals in einem Requiem „stimmtypologisch eingesetzt und
ermöglichen dadurch ein menschliches Drama, das Verdi durch den Chor zum
Menschheitsdrama erweitert“ (Schweikert). Das Orchester ist mit größter Instrumentationskunst behandelt und bekommt immer wieder tragende Funktionen, Sprach- und Tonausdruck sind stets in eins gesetzt; die Wortverständlichkeit zu gewährleisten ist ein striktes Gebot für die Interpretierenden.
Homo- und Polyphonie durchdringen sich geschmeidig.

Im Mittelpunkt des siebenteiligen Werkes steht die Sequenz, die mehr als zwei Fünftel des Ganzen einnimmt und in sich wiederum in verschiedene Episoden aufgefächert ist.
Zum einen erklingt das vom Chor geradezu geheulte Dies irae im Verlaufe der Sequenz noch zweimal, wenn auch variiert. Zudem rezitiert er, in vierfachem Pianissimo auf einem Ton flüsternd, während der vierten Sequenz-Szene Liber scriptus permanent Dies irae. Zum anderen fügt Verdi die Einzelszenen durch zwei gegensätzliche Prinzipien aneinander: Entweder werden sie ineinander verschachtelt (wunderbar beispielsweise der gleitende Wechsel vom Schluss des
Rex tremendae/Salva me zum Recordare Jesu), oder aber mit filmschnittmäßigen harten Kontrasten angeschlossen (s.Einbruch des Rex tremendae). Das ist oft auch beim Tonartenverlauf der Fall; so ist der Anfang der Sequenz sowohl dynamisch extrem vom Schluss des Kyrie abgesetzt, als auch durch das abrupte Umschalten von A-Dur nach g-Moll.
Die motivische Verklammerung setzt sich im wesentlichen aus drei Hauptmotiven zusammen, zwei davon, eine Dreiklangsbrechung und eine Skalenbewegung, werden bereits in den ersten fünf Takten vorgestellt. Das dritte Motiv, eine in sich kreisende Terzausfüllung, ist etwa im Geheul des Dies irae oder im Requiem aeternam der Communio gut zu hören.

Nr. 1, Introitus und Kyrie, ist im Großen zweiteilig, während der  Introitus selbst eine Da-capo-Form aufweist.
Nr. 3, Offertorio, ist streng  axialsymmetrisch um das bewegende lichtdurchflutete Hostias angeordnet und dem solistischen Quartett allein überlassen. Das dreiteilige kurze Agnus Dei vereinigt in berückender Weise „gregorianische“ Modalität, responsoriale Praxis und urtümliches Singen in Oktavparallelen mit der modernen Harmonik, Variations- und Instrumentationskunst Verdis.
Lux aeterna besitzt einen rituellen Charakter. Alle Todesszenen aus Verdis Opern werden gleichsam wie in einer sakralen Handlung aufgehoben. Alle musikalischen Zeichen bis hin zu einem schweren Trauermarsch fließen zu einer Semiotik des Todes zusammen“ (Schweikert).
Ohne Trost und Hoffnung, aber mit Mut und Verstand Verdis Messa
ist einzigartig: Bei ihm, der einmal schrieb: „Man sagt, Il trovatore sei zu
traurig und es gäbe zu viele Tote darin. Aber schließlich ist im Leben doch alles Tod?
Was lebt schon?“ (1853), erscheint der Tod als „Vernichtung des Menschen“ (Vladimir Jankélévitch), als „die härteste Nicht-Utopie“ (Ernst Bloch). So schildert der Anfang der Sequenz wohl nicht nur einfach die Schrecken des Jüngsten Gerichts, sondern steht vorab für den Skandal des Todes und für „das Beil des Nichts“ (Bloch), das den „Morendo“- Schluss des Kyrie buchstäblich zerhackt, und das immer wieder verstummende Mors stupebit ist ein atemberaubendes „Schreckensbild der Leere“ (Bernd Scherers). Verdi bezieht sich indes nicht auf einzelne, sondern auf alle Menschen, ob sie gestorben sind oder noch leben.

Mit seiner Messa richtet er sich explizit an letztere als Kollektiv; er gibt ihrer Trauer und ihren Ängsten eine ausdrucksvolle und mächtige Stimme, kann sie aber nicht trösten, weil für ihn der Tod „das absolute Nein, das kein Danach kennt“, aber auch eine „naturgegebene Notwendigkeit“ (Jankélévitch) darstellt. Pointiert gesagt, teilt Verdi uns mit: Wir alle werden unweigerlich einem schrecklichen und endgültigen Tod entgegengehen.
Die Messa bietet keinerlei Pathos, Metaphysik, Sentimentalität und Larmoyanz, vor
allem nicht bei Beachtung der stets schnellen Metronomangaben Verdis und einem
sparsamen Umgang mit dem Rubato, sondern betreibt mit ihrer realistischen, der Wahrheit verpflichteten und zutiefst humanen Haltung als eines der wichtigsten Musikwerke überhaupt Aufklärung, ohne geheimnislos zu sein. Verdis Pessimismus, der sich aus dem allgemeinen Lauf der Welt im 19. Jahrhundert und aus der letztlich gescheiterten Revolution in Italien nährt, macht ganz klar: Unfassbar ist der Tod, und machtlos stehen die Menschen vor ihm; problematisch, und das ist wichtiger, ist aber auch das Leben! Sein Dies-irae -Anfang geißelt vielleicht ganz immanent die Dogmatik, Lebens- und Menschenfeindlichkeit aller politischen und religiösen Herrschaftssysteme.
Das Sanctus, die einzige affirmative Huldigung Gottes in der Totenliturgie ist unproportional kurz, wie wenn er es hätte schnell  hinter sich bringen wollen! Gleichzeitig setzt er an seinem Schluss ausgesprochen rohe Mittel ein und schildert wohl ein Jubeln unter Zwang. Und geradezu trotzig (und von tiefen Instrumenten begleitet) beschwört der Solobass im Lux aeterna die „ewige Ruhe“: Da steht kein flehentlich Bittender vor seinem Gott, sondern ein aufgeklärter Mensch, der weiß, dass ein Gebet sinnlos wäre, weil der Tod das absolute Ende ist und die „ewige Ruhe“ höchstens eine schönfärberische Metapher dafür!

Am Ende der Messa steht also „kein erlösendes Heilsversprechen, sondern Unsicherheit, nicht Glaubensgewissheit, sondern kraftlose, tonlose Verzweiflung. Verdis Musik spendet keinen Lichtschein in die Finsternis, breitet kein verklärendes Amen über die Trostlosigkeit des Todes.“ Gott existiert nicht oder schweigt zumindest „in einer Welt der Ungewissheit und Finsternis“ (Schweikert).

Die Messa da Requiem ist als kirchenmusikalisches Werk singulär, jedoch keine Kirchenmusik, keine Messe und nicht für die Liturgie gedacht, sondern ein meisterlich gestaltetes Angebot an freie Menschen, selbständig über „die schwierige Wahrheit des Lebens“ (Dieter Schnebel über Verdis Kunst, diese Wahrheit in Töne zu fassen) und des Todes nachzudenken, nicht ohne gegen letzteren mutig zu rebellieren.(Anton Haefeli)
Das Ausloten vieler Extreme stellt Verdis Musiksprache ganz in den Dienst einer mit musikalischen Mitteln dramatischen Liturgie.

 

 Das Werk besteht aus sieben Teilen, wie Ein deutsches Requiem von Brahms!

 

No. 1         Requiem aeternam -Te decet hymnusKyrie           Soloquartett und Chor

No. 2 (9)    Sequenz
Dies irae – Quantus tremor                                      Bass & Chor
Tuba mirum Mors stupebit                          Mezzosopran & Tenor
Liber scriptus Dies irae                                             Soli & Chor
Quid sum miser                            Sopran, Mezzosopran & Tenor
Rex tremendae Salva me                                          Soli & Chor
Recordare         Quaerens meJuste Judex           Sopran & Mezzosopran
Ingemisco Qui MariamPreces meaeInter oves                    Tenor
Confutatis          Oro supplexDies irae                             Bass & Chor
Lacrymosa Pie Jesu                                                  Soli & Chor

No. 3         Offertorium Domine JesuHostiasQuam olim Abrahae                   Soli

No. 4         Sanctus                                                                   Chor I & II

No. 5         Agnus Dei                                     Sopran, Mezzosopran & Chor

No. 6         Communio - Lux aeterna                Mezzosopran, Tenor & Bass

No. 7         Responsorium Libera me-Dies iraeLibera me         Sopran & Chor

 

Orchesterbesetzung
3 Flöten (3. auch Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, 4 Fagotte, 4 Hörner, 8 Trompeten (davon 4 Ferntrompeten in Tuba mirum), 3 Ventiltenorposaunen, 1 Ophikleide (heute oft durch Cimbasso ersetzt), Pauken, große Trommel und Streicher.

Bei der Instrumentation ist besonders der solistische Einsatz der großen Trommel im Dies irae hervorzuheben, so dass hier für unterschiedliche Stellen oft zwei verschiedene Instrumente verwendet werden.[2] Das Offertorium enthält eine Probespielstelle für Cello.